Brasilien, Land der Zukunft...

10 Mai 2014

Brasiliens Aufstiegseuphorie ist verflogen, und das ausgerechnet im Jahr der Fussball-WM. Das Land, das dem Traum von der Ersten Welt nachhing, das Lateinamerikas ökonomische und poli­tische Führungsmacht werden wollte, das internationale Investoren anzog und begonnen hatte, das Klischee sambabeschwingter, aller Armut trotzender Frivolität abzuschütteln – es fürchtet einmal mehr den Fluch, den der österreichische Schriftsteller und Emigrant Stefan Zweig in seinem 1941 erschienenen Buch «Brasilien. Ein Land der Zukunft» evoziert hatte:

Brasilien, Hort des ewigen, stets enttäuschten Optimismus.

Sechzig Jahre lang hatte sich die Bevölkerung mit dem selbstironischen Spruch «Brasileiro, profissão esperança» (Brasilianer, Beruf: Hoffnung) getröstet. Sechzig Jahre lang hatte sie auf eine Zukunft gewartet, die sich stets vor der Gegenwart duckte. Dann, zu Beginn des neuen Jahrtausends, schien der Bann gebrochen. Heute herrscht Ungewissheit, ob Brasilien auf seinem Weg nach oben einen Zwischenhalt einlegt oder ob der Aufstieg zu Ende ist. Ob es in eine vorübergehende, letztlich heilsame Identitätskrise geraten oder von einem unüberwindlichen Burn-out betroffen ist.
Ab wie eine Rakete

Auf den ersten Blick ist der Grund für die gedrückte Stimmung banal: Die Wirtschaft der weltweit siebtgrössten Volksökonomie stottert. Schlimmer ist, dass dafür nicht vorwiegend konjunkturelle, sondern strukturelle Gründe verantwortlich sind. Brasilien hat die Jahre des Booms zu wenig genutzt, um Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen zu verbessern, um ein auf Rohstoffexporte, Umverteilung und erleichterte Kreditvergabe beruhendes Modell der Konsumankurbelung schrittweise durch eine Wirtschaftspolitik abzulösen, die auf Investition, Wettbewerbsfähigkeit und Steigerung der Produktivität setzt.

Der Umschwung von Euphorie in Pessimismus erfolgte schnell. 2007 bestimmte die Fifa Brasilien als Austragungsort der diesjährigen Fussball-WM. «Wir werden das Grossereignis nutzen, um die Lebensbedingungen unseres Volkes weiter zu verbessern», versprach Brasiliens damaliger Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Zwei Jahre später wählte das Internationale Olympische Komitee Rio de Janeiro zum Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 2016. Endlich hatte es die Welt gemerkt, Gott ist Brasilianer. Im selben Jahr zeigte das britische Magazin «The Economist» auf seinem Titelblatt die Christusstatue von Rio de Janeiro als in den Himmel schiessende Rakete. 2010 wuchs die Wirtschaft um nahezu 7,5 Prozent, den höchsten Wert seit einem Vierteljahrhundert.

Wer das Land zu jener Zeit bereiste, stellte fest, dass sich zu den sprichwörtlichen brasilianischen Nationaltugenden Fröhlichkeit, Freundlichkeit und Freizügigkeit mitunter Hochmut gesellte. Auf die Frage, welche Gäste die unangenehmsten seien, antwortete damals eine Kellnerin in einem Restaurant von Buenos Aires, ohne zu zögern: «Die Brasilianer. Sie meckern ständig, bei ihnen zu Hause schmecke es besser.»
2012 steigerte Brasilien sein Bruttoinlandprodukt noch um kümmerliche 0,9, vergangenes Jahr um 2 Prozent. Für 2014 haben Analysten ihre Prognose soeben auf 2 Prozent gesenkt. Bei ihrem Amtsantritt 2011 hatte Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, wie ihr Vorgänger Lula Mitglied der linken Arbeiterpartei, ein jährliches Wachstum von 6 Prozent versprochen. Die Regierung schiebt die Schuld «externen Faktoren» zu, ob Eurokrise, Währungszerfall in Argentinien, sinkende Nachfrage nach brasilianischen Rohstoffen aus China oder die Erwartung höherer Zinsen in den USA.

Wenngleich nichts davon völlig abwegig ist, liegt der Hauptgrund für die ökonomische Trägheit anderswo: Den rie­sigen Binnenmarkt durch erleichterte Kredite und geringere Steuern auf Autos oder elektronische Geräte zu stimulieren, funktioniert nicht mehr, weil die Privathaushalte so stark verschuldet sind, dass sie fast die Hälfte ihres Einkommens für Kredittilgungen verwenden müssen. Und weil auch der Staat, finanziert durch eine der weltweit höchsten Fiskalquoten, wegen seiner für ein Schwellenland beträchtlichen Verschuldung von 66 Prozent des Bruttoinlandproduktes auf die Ausgabenbremse tritt.
Byzantinische Bürokratie, Korruption, Rechtsunsicherheit, hohe Abgaben, die verglichen mit anderen Schwellenländern ansehnlichen Lohnkosten, kurz: Der sogenannte «custo Brasil» (brasilianischer Kostenfaktor) ist dafür verantwortlich, dass die Investitionsquote lediglich 18 Prozent des Bruttoinlandproduktes beträgt. Der Wert ist nicht nur einer der tiefsten in Lateinamerika, sondern liegt auch deutlich unter jenem von Russland (25 Prozent), Indien (35 Prozent) und China (49 Prozent).
Der Stimmungsumschwung hat eine lange Liste von Missständen ins öffentliche Bewusstsein gerückt: der schlechte Zustand von Strassen und Häfen, der teure öffentliche Verkehr mit seinen verlotternden Vorortsbussen und überfüllten Metrozügen.

Das dürftige Volks- und Hochschulsystem, das Brasilien beim Pisa-Test 2012 von 65 ausgewerteten Ländern bezüglich Lesefähigkeit auf Rang 55 und bezüglich mathematischer Kenntnisse auf Rang 58 verbannte. Der Vergleich mit China, in beiden Disziplinen die Nummer eins, müsste Brasiliens Bildungsminister eigentlich in eine Depression stürzen.
Vergangenes Jahr hat das mit 200  Millionen Einwohnern grösste Land Lateinamerikas 660 internationale Patente registrieren lassen; aus Israel mit 8 Millionen Einwohnern stammten 1600, aus Südkorea 12 400 Patente. Die öffentlichen Spitäler in den brasilianischen Grossstädten sind eine Zumutung, auf dem Land zwingt der Mangel an medizinischem Personal, kubanische Ärzte einzusetzen.

Jubel wie Skepsis übertrieben
Vereinzelte Stimmen halten die Skepsis, die Brasilien nun entgegenschlägt, für so masslos, wie es zuvor der Jubel gewesen sei. Etwa Luiz Carlos Mendonça de Barros, Ökonom, Ingenieur, ehemaliger Präsident der mächtigen brasilianischen Entwicklungsbank und einstiger Kommunikationsminister unter Präsident Fernando Henrique Cardoso. Heute führt Mendonça de Barros in São Paulo ein Investitions- und Beratungsunternehmen. Der 71-Jährige scheint ein temperamentvoller Mann zu sein, bricht er doch das Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger» schon nach der ersten Frage wütend ab. Er könne das ewige Gerede von der Misere seines Landes nicht mehr hören, sagt er, und verlässt den Konferenzraum.

Zurück bleiben ein verblüffter Journalist und der Verdacht, verärgerte Investoren hätten in jüngster Zeit Mendonça de Barros’ Nerven strapaziert. Grund dafür haben sie, ist doch der Börsenindex Bovespa während der letzten drei Jahre fast unentwegt gefallen und hat die Ratingagentur Standard & Poor’s Ende März die Einstufung brasilianischer Schuldscheine auf BBB– gesenkt. «Moment, ich hole ihn zurück», verspricht die Sekretärin des Ex-Ministers, was ihr nach zehnminütiger Überzeugungsarbeit gelingt.
«Es ist immer noch dasselbe Land und dasselbe Volk wie vor einigen Jahren», dekretiert Mendonça de Barros. Er betont, das Pro-Kopf-Einkommen sei zwischen 2003 und 2010 durchschnittlich um jährlich 4 Prozent gewachsen. «Fast 70 Prozent der Bevölkerung sind heute im formellen Sektor beschäftigt. 1993 war es lediglich ein Drittel. Die Arbeitslosigkeit ist auf 5 Prozent gesunken.

Das ist die grosse Leistung von Lula und seinem Vorgänger Fernando Henrique Cardoso. Sie haben mehr als einen Boom entfacht, sie haben das Land strukturell verändert.»

Brasiliens amtierende Präsidentin hat zwar laut Mendonça de Barros während ihrer ersten Amtszeit nicht begriffen, wie dringend notwendig ein neues, auf Investitionen abzielendes ökonomisches Modell wäre. Ihre oft interventionistischen Massnahmen, etwa die Verstaatlichung des Energiesektors oder die Gängelung des Erdölkonzerns Petrobras, hätten die Lage vielmehr verschlimmert. Aber sofern Rousseff nach den Wahlen vom Oktober von ihren sowjetischen Wirtschaftskonzepten abrücke und das Vertrauen der Unternehmer zurückgewinne, sagt Mendonça de Barros, könne es wieder aufwärtsgehen. Und zählt Faktoren auf, die nach wie vor für Brasilien sprechen: der riesige Binnenmarkt, der Rohstoffreichtum, die junge Bevölkerung, das moderne Bankensystem, die rekordhohen Devisenreserven.
40 Millionen weniger Arme

40 Millionen Menschen sind während Lulas Regierungszeit zwischen 2003 und 2011 der Armut entkommen, sind in die Mittelschicht und in den formellen Arbeitsmarkt aufgestiegen – das ist Brasiliens weltweit verbreitete, medial gefeierte Erfolgsgeschichte der Nullerjahre.

Doch in einem der teuersten Länder Lateinamerikas genügt schon ein Monatseinkommen von umgerechnet 115 Franken, um in den offiziellen Statistiken nicht mehr als arm zu gelten. Brasiliens Nettoeinkommen pro Kopf war 2012 kaufkraftbereinigt halb so gross wie das griechische, und es lag 30 Prozent tiefer als in Mexiko.
Der brasilianische Aufschwung beruht zumindest teilweise auf einem von Konsumkrediten erschaffenen Mythos oder auf einer irreführenden Verwendung des Begriffs Mittelschicht. Für viele aus dieser Klasse ist der Alltag noch immer eine Plackerei. Im Juni 2013 brachte eine scheinbare Nichtigkeit den Unmut über die windschiefe öffentliche Infrastruktur jäh zur Explosion.
Eine Erhöhung der Preise für öffentliche Verkehrsmittel um wenige Rappen trieb in São Paulo eine kleine Gruppe Demonstranten auf die Strasse, angeführt von der linksanarchistischen Or-ganisation Passe livre, die seit Jahren für kostenlosen öffentlichen Verkehr kämpft. In sozialen Netzwerken dokumentierte Übergriffe der Polizei entfachten einen Flächenbrand. Zur Bestürzung von Regierung und Öffentlichkeit demonstrierten während Wochen in sämtlichen grösseren Städten des Landes Hunderttausende, nicht nur gegen den kostspieligen öffentlichen Verkehr, sondern auch aus Unzufriedenheit über Spitäler, Schulen, Bürokratie, aus Empörung über Korruption und Alltagskriminalität – und weil die Regierung die teuerste Fussball-WM aller Zeiten vorbereitet. Es zeichnete sich das unfassbare Szenario ab, dass im fussballbegeistertsten Land der Erde das Turnier in Chaos versinken könnte.

Rousseff reagierte zunächst gar nicht, dann stiess sie hektisch Versprechen um Versprechen aus, empfing die Protestler im Präsidentenpalast, kündigte politische Reformen, ja eine verfassunggebende Versammlung an. Doch ihre Popularität stürzte ab wie ein vom Blitz getroffener Spielzeugdrachen, um fast dreissig Prozent binnen wenigen Tagen. Obwohl sich die Beliebtheitswerte der 67-jährigen Ökonomin später etwas erholten, liegen sie heute deutlich tiefer als vor den Ausschreitungen.
José Álvaro Moisés behauptet, ihn hätte die Protestwelle nicht überrascht. Seit 2005 erforscht der an der Univer­sität von São Paulo lehrende Soziologe und Politologe die Befindlichkeit der brasilianischen Bevölkerung. Er hat festgestellt, dass sich die Unzufriedenheit über die öffentlichen Dienstleistungen auf fast alle demokratischen Institutionen ausgedehnt hat: 80 Prozent misstrauen den Parteien und dem Kongress, 70 Prozent der Polizei, 60 Prozent der Präsidentschaft und den Ministerien.
«Am meisten Zuspruch geniessen Kirche und Militär, also hierarchische, antidemokratische Institutionen.

Die Einstellung der Brasilianer zur Demokratie ist zwiespältig», sagt Moisés. Die Möglichkeit, mehr zu konsumieren, habe ein stärkeres Selbstbewusstsein und Ansprüche geschaffen, denen der Staat nicht gerecht werde. Vor allem aber fühle sich ein Teil der Gesellschaft durch Parteien und Parlament nicht repräsentiert. Und der Anreiz, sich innerhalb der Institutionen zu engagieren, sei angesichts der verbreiteten Korruption und der undurchschaubaren Machtspiele der politischen Elite gering.
Die Proteste des vergangenen Sommers dauerten wochenlang, ehe sich unter den Demonstranten Ermüdung breitmachte. Mittlerweile sind die Kundgebungen zu periodisch inszenierten Ritualen geworden, die nicht mehr durch ihre Mobilisierungskraft, sondern wegen gelegentlicher Gewaltexzesse Aufsehen erregen.

An einem Samstag ziehen rund tausend Personen von der Praça da Republica zum Stadttheater in São Paulo, einige Dutzend von ihnen verhüllt. Die Zahl der aufgebotenen Polizisten ist nahezu gleich gross wie jene der Demonstranten. Die Protestierenden rufen Slogans gegen den Gouverneur, den Bürgermeister, die Fifa, und immer wieder erklingt der Kampfschrei der Anti-WM-Bewegung, «Não vai ter copa», es wird keine WM geben. Irgendwann werfen die Mitglieder des schwarzen Blocks Steine und Molotowcocktails. Militärpolizisten verschiessen Tränengas, die Demonstranten preschen auseinander. 120 Personen werden verhaftet, darunter fünf Journalisten. Einige Tage später ruft Passe livre in einem trostlosen Viertel der Peripherie zu einer Kundgebung auf, weil die Stadtbehörden eine Buslinie eingestellt haben.

Die Organisation, die vor Monaten São Paulo erbeben liess, mobilisiert jetzt noch ein paar Dutzend Anwohner. «Wenn das Bildungs- und Gesundheitssystem kostenlos ist, warum nicht auch der öffentliche Verkehr?», fragt David Granja, Philosophiestudent und Aktivist von Passe livre. Er sei bereit, zur Durchsetzung dieser Forderung Gewalt gegen Sachen anzuwenden, etwa leere Busse in Brand zu setzen. Die revolutionäre Aufbruchstimmung des vergangenen Jahres werde wiederkehren.

Die Fratze im Spiegel
Dasselbe vermutet auch José Álvaro Moisés. Die Widrigkeiten, welche die Proteste heraufbeschworen hätten, seien ungelöst, und so genüge ein Kurzschluss, um abermals eine Explosion zu provozieren. Schon die während der WM auf Brasilien gerichtete internationale Aufmerksamkeit könne die Bewegung, die dank sozialer Netzwerke äusserst agil ist, erneut mobilisieren.

Blickt Brasiliens Gesellschaft in den Spiegel, zuckt sie vor der gewalttätigen Fratze zurück, der sie sich gegenübersieht. Die Zeitschrift «Veja» schreibt von einer «Welle der Barbarei»: Im Februar wird der Dokumentarfilmer Santiago Andrade während einer Demonstration in Rio de Janeiro von einem Feuerwerkskörper getroffen und stirbt. In São Paulo üben Passanten Lynchjustiz an einem mutmasslichen Dieb, indem sie ihn nackt an einen Strassenpfosten ketten. Die Bilder des schwarzen Fünfzehnjährigen erinnern an die Zeiten der Sklaverei. Zwischen 2005 und 2009 hat die Militärpolizei des Bundesstaates São Paulo jährlich mehr Menschen erschossen als die Ordnungshüter der ganzen Vereinigten Staaten. In der Finanzmetropole Lateinamerikas sind die Bancomaten ab zehn Uhr abends ausser Funktion, um zu verhindern, dass Kunden mit vorgehaltener Waffe zum Abheben gezwungen werden.

Eine Filiale der Bank Caixa popular im Zentrum bewachen drei bewaffnete Polizisten, einer steht mit umgehängtem Maschinengewehr mitten im Schalterraum. Wer die Bank betritt, muss eine Sicherheitsschleuse passieren wie am Flughafen. Trotz des Aufschwungs der Nullerjahre ist Brasilien eines der gefährlichsten Länder der Welt geblieben. Seine Mordrate liegt mit 26 Fällen auf hunderttausend Einwohner höher als im vom Drogenkrieg heimgesuchten Mexiko.
In einem Essay über ihr Land schreibt Nélida Piñón, die grosse alte Dame der brasilianischen Literatur: «Brasilianer sein bedeutet, das Mysterium hinzunehmen, in der Überzeugung, Gott werde unsere Konflikte lösen, weil er selber Brasilianer ist.» Je eher Brasilien von dieser Überzeugung abrückt, desto besser.

...siehe die Quelle...=>  www.tagesanzeiger.ch

 

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